„Gemeinsam sind wir stark" - oder?

Wer in und mit Gruppen arbeitet, wird schnell mit dem Umstand konfrontiert sein, dass es innerhalb der Gruppe Untergruppen gibt, die eine bestimmte Dynamik in die Gesamtgruppe bringen. Diese Gruppenbildungen und damit einhergehenden Dynamiken gilt es zu bemerken und zu verstehen, um produktiv mit und in einer Gruppe arbeiten zu können und diskriminierendes Verhalten innerhalb der Gesamtgruppe thematisieren und vermindern zu können. Dies ist auch für alle Peer Tutor_innen, die mit Gruppen arbeiten, eine wichtige Kompetenz.

Gruppenbildung ist so alt wie die Menschheit selbst. Menschen gehören sozialen Gruppen an, Nationen, Glaubensgemeinschaften, sie schließen sich zu Arbeitsgruppen zusammen, bilden Teams und Mannschaften – und je besser die Gruppenmitglieder dabei aufeinander abgestimmt sind, je mehr sie sich miteinander, dem gemeinsamen Wertesystem und mit der gemeinsamen Aufgabe identifizieren, desto zielorientierter können sie zusammen arbeiten und desto sinnstiftender wird die Zugehörigkeit zur Gruppe für die einzelnen Mitglieder. Zusammenhalt, Identifikation, ein „Wir“-Gefühl – sind das nicht die Pfeiler eines harmonischen gesellschaftlichen Zusammenlebens? Ist das nicht der Schlüssel zu Demokratie und Frieden?

Aber: wenn es ein „Wir“ gibt, gibt es dann nicht auch automatisch ein „die Anderen“? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Gruppenmitgliedern zu Mitgliedern „anderer Gruppen“? Streits, Konflikte, Kriege – werden sie nicht zwischen verschiedenen Gruppen geführt? Rassismus – ist er nicht auch ein Produkt von Gruppenbildung? Und selbst in viel kleinerem Maße, etwa in Arbeitsgruppen, kennen wir es nicht auch dort allzu gut, dass sich zwischen verschiedenen Arbeitsgruppen Konkurrenzverhalten entwickelt, dass Informationen doch lieber nur an Mitglieder der eigenen Gruppe weitergegeben werden und den freien Job, den gebe ich auch lieber jemandem aus den eigenen Reihen...

Gruppen sind die Stützen des menschlichen Zusammenlebens. Und gleichzeitig sind sie die Risse, die die Gesellschaft spalten und an deren Kanten sich Konflikte, Ungleichheit und Diskriminierung entfalten. Diese Diskrepanz gilt es im Blick zu behalten, wollen wir die Dynamiken menschlicher Gruppenbildung verstehen.

Diskriminierung zwischen Gruppen

Warum und wie gruppenbezogene Vorurteile und Diskriminierung entstehen, das ist eine wichtige Frage der Sozialwissenschaften. Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurden zu diesem Thema vielzählige Experimente durchgeführt und verschiedene Theorien aufgestellt. Der US-amerikanische Soziologe Lewis A. Coser (1913 – 2003) besipielsweise stellte 1956 in The functions of Social Conflict die These auf, dass es zwei verschiedene Arten von Konflikten zwischen Gruppen gibt: zum einen die „rationale“, zum anderen die „irrationale“. Erstere Art stellt ein Mittel zum Zweck dar: eine Gruppe diskriminiert die andere, weil es ihr Vorteile bringt. Zweitere stellt an sich den Zweck dar: die Diskriminierung der anderen Gruppe hilft dabei, eigene Spannungen abzubauen und durch den Akt der Diskriminierung dem eigenen Ärger Luft zu machen.

Henri Tajfel1

Der britisch-jüdische Sozialpsychologe Henri Tajfel (1919 – 1982) dagegen vermutete den Grund für gruppenbezogenes diskriminierendes Verhalten auf einer tieferen Ebene; er ging davon aus, dass Diskriminierung unter Gruppen nicht unbedingt an „objektive“ Faktoren, beispielweise ökonomischer, kultureller, historischer, politischer und psychologischer Art, gekoppelt sein und auch nicht, wie Coser es annahm, einen klaren Grund haben muss. Seiner These zufolge entstehen Konflikte zwischen Gruppen allein durch den Umstand, dass es verschiedene Gruppen gibt.

Die Bildung von Gruppen, so Tajfel, ist ein notwendiges Mittel des Menschen, sich in der Gesellschaft zurecht zu finden; so ist die wichtigste Kategorie, mit der ein Mensch seine Umgebung und sich selbst darin organisiert, die Aufteilung „Wir“ vs. „Sie“. Dies führt automatisch zu einer Identifikation mit der bzw. den eigenen sozialen Gruppe(n) und gleichzeitig zu einer Abgrenzung und meist einer Abwertung „der anderen Gruppe(n)“. In welche Gruppen ein Mensch die Gesellschaft einteilt, welche Eigenschaften er den verschiedenen Gruppen zuordnet, wie er sie hierarchisch einteilt und zu welchen Gruppen er sich selbst zählt, ist dabei weder zufällig noch in den meisten Fällen freiwillig und intentional; so lernt jeder Mensch von klein auf, wo er gesellschaftlich „hingehört“ und übernimmt dabei die Werte und Normen der eigenen Gruppe(n).

In mehreren Experimenten konnte Tajfel beweisen, dass gruppenbezogene Diskriminierung keinesfalls den Interessen eines Individuums nützen muss, ja, dass ein Individuum noch nicht einmal Vorurteile oder Feindseligkeit gegen die Mitglieder der „anderen“ Gruppe hegen muss, um diese zu diskriminieren. Anders herum muss ein Individuum die Mitglieder seiner Gruppe weder kennen noch schätzen, um sie den Mitgliedern der anderen Gruppe gegenüber zu bevorteilen; es reicht allein das Wissen, dass eine Person zur eigenen Ingroup und die andere zur Outgroup gehört, um erstere zu bevorteiligen und letztere zu benachteiligen.

Damit macht Tajfel die Ambivalenz von menschlicher Gruppenbildung deutlich: zum einen ist sie ein wichtiges Instrument des Menschen, sich gesellschaftlich zu verorten und zurecht zu finden, zum anderen führt sie fast unweigerlich zu diskriminierendem und dabei nicht selten zu schädlichem Verhalten. Die Kunst ist es also, Gruppen möglichst flexibel zu halten und Abwertungen „anderer“ Gruppen entgegen zu wirken.

Tajfel, Henri (1970): Experiments in intergroup discrimination. Scientific American, 223, 96-102.4

Peer Tutoring

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Quellen & Literatur

Bildquellen:

0 (c) Leggemann, Nora Deetje; Pawlik, Nina

1 http://en.wikipedia.org/wiki/Henri_Tajfel#mediaviewer/File:Henri_Tajfel.jpg

Videoquellen:

5 http://www.youtube.com/watch?v=ShlkP8blatE

6 http://www.youtube.com/watch?v=2IyeQ4FCwr0

2 http://www.europa-uni.de/de/struktur/zfs/peer-tutoring/index.html

18 http://www.youtube.com/watch?v=cym9Dyg2_bs

21 http://www.youtube.com/watch?v=Cpf3ryt-Wt0

25 http://www.youtube.com/watch?v=v-o1UvUrmU8

Internetquellen:

20 http://www.deutschlandschwarzweiss.de/

22 http://itooamharvard.tumblr.com/

23 http://auchichbindeutschland.tumblr.com/

26 http://baustein.dgb-bwt.de/C4/index.html

Literaturquellen:

3 Anhut, Pascal (2011): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF). Was ist Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.Universität Bielefeld - Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG). Online verfügbar unter  http://www.uni-bielefeld.de/ikg/projekte/GMF/WasIstGMF.html, zuletzt aktualisiert am 17.06.2011, zuletzt geprüft am 01.12.2014.

4 Tajfel, Henri (1970): Experiments in intergroup discrimination. Scientific American, 223, 96-102.

7 http://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/126515/ungleichheit-ungleichwertigkeit?blickinsbuch

8 http://library.fes.de/pdf-files/do/07905-20110311.pdf

9 http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/die-theorie-in-der-praxis-projekte-gegen-gmf.pdf

10 http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/1_living-equality.pdf

11 http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/broschuere_gmf_2.pdf

12 Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 5. aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2011.http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/18092/rasse-rassismus.(Stand: 04.05.2014).

13 Mecheril, Paul/Scherschel, Karin (2011): Rassismus und „Rasse“. In: Melter, Claus/Mecheril, Paul (Hrsg.): Rassismuskritik. Schwalbach/Ts: Wochenschau Verlag (Reihe Politik und Bildung, Bd. 47-48).

14/15/16 Memmi, Albert (1992): Rassismus. Neuaufl. Hamburg: Europ. Verl.-Anst. (Eva-Taschenbuch, 96).

17 http://www.fb4.fh-frankfurt.de/whoiswho/gaitanides/Memmi_Rassismus.pdf

19 Goel, Urmila (2012): Alltagsrassismus. anders deutsch. Online verfügbar unter http://andersdeutsch.blogger.de/stories/2019288/, zuletzt geprüft am 23.07.2014.

24 http://www.unrast-verlag.de/gesamtprogramm/allgemeines-programm/antirassismus/wie-rassismus-aus-woertern-spricht-340-detail

Gruppebezogene Menschenfeindlichkeit

Menschen gehören verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Kategorien an, wobei ein Mensch stets gleichzeitig mehreren Kategorien angehört. Gängige Kategorien sind beispielsweise die ethnische Zugehörigkeit, das Geschlecht, die soziale Schicht und der ökonomische Status, der Grad der Bildung, der gesundheitliche Zustand, Behinderungen, das Alter und die sexuelle Orientierung. Auf der Grundlage dieser Unterschiede gibt es verschiedene Diskriminierungsformen wie etwa Rassismus, Sexismus, Klassismus, Homophobie usw.

Aber handelt es sich bei diesen Diskriminierungsformen um ganz unterschiedliche Phänomene, oder liegt ihnen allen die gleiche "Logik" zu Grunde? Diese Frage stellte sich ein Forscher_innen-Team des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Unter dem Begriff „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF)“ untersuchten sie die Logiken der unterschiedlichen Diskriminierungsformen und kamen zu dem Schluss, dass Diskriminierungen zwar in unterschiedlichen Formen und auf verschiedenen Ebenen stattfinden, aber aufgrund der gleichen Ideologie entstehen. Diese gemeinsame Ideologie nennen sie die „Ideologie der Ungleichwertigkeit“.3

Für mehr Informationen zur Studie und der Theorie der GMF bietet sich die eigene Homepage des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld an.

Das Video ist hier verfügbar.5

Für eine intensivere Einarbeitung in die Thematik empfiehlt sich der Vortrag von Beate Küpper "Die Abwertung der Anderen".6 Es wurde ebenso ein Fachartikel in der APuZ „Ungleichheit, Ungleichwertigkeit“ von 2012 der bpb unter dem Titel „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ von Eva Groß, Andreas Zick und Daniela Krause veröffentlicht.7

Darüber hinaus wurde von der Friedrich-Ebert-Stiftung die Publikation „Die Abwertung der Anderen“ herausgegeben, welche sich allgemein mit dem Phänomen von Vorurteilen, Stereotypen und Diskriminierung befasst. An dieser Publikation sind u.a. zwei Hauptautor_innen aus der GMF Forschungsgruppe (Zick & Küpper) beteiligt.8

Zudem gibt es verschiedene Ansätze, die sich mit Strategien gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit beschäftigen und Konzepte in der Praxis ausprobiert haben. Dazu hat vor allem die Amadeu Antonio Stiftung die sehr informativen Publikationen "Die Theorie in der Praxis"9, "Living Equality"10 und "Reflektieren. Erkennen. Verändern."11 herausgegeben.

Beispiel Rassismus

Im Folgenden soll Gruppendiskriminierung am Beispiel der GMF Kategorie Rassismus näher dargestellt und veranschaulicht werden. Die hier vorgenommene Auswahl des Rassismus ist exemplarisch und hat nichts mit einer Höherbewertung dieser Diskriminierungsform bzw. mit einer Abwertung und Verharmlosung anderer Diskriminierungsformen zu tun.

Was ist Rassismus?

Definitionen von Rassismus werden oft auf den Begriff der "Rasse" zurückgeführt. Die Bundeszentrale für politische Bildung beispielsweise verwendet den Begriff der "Rasse" auf Menschen bezogen und nimmt diesen als Grundlage für den biologisch begründeten Rassismus auf.12 Von der UNESCO wurde der Begriff der "Rasse" im wissenschaftlichen Kontext und als Beschreibung für soziale Prozesse jedoch abgelehnt, da er für die Beschreibung und Einteilung von Menschen wissenschaftlich nicht angemessen erscheint und zudem noch stark den Beigeschmack des Nationalsozialismus innehat.13 Albert Memmi schreibt über Rassismus: „Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Vorteil des Anklägers und zum Nachteil seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen“.14 Dass Memmi das Wort "Rasse" in seiner Definition nicht verwendet, liegt an seiner Annahme, dass Rassismus im engeren und weiteren Sinne betrachtet werden kann, wobei sich der Rassismus im weiteren Sinne nicht mehr nur auf die biologischen Unterschiede und den eventuellen politischen und ökonomischen Nutzen bezieht, sondern die strategische Abwertung Anderer zugunsten der eigenen Aufwertung in den Vordergrund tritt.15 Memmi gibt seiner eigenen Definition eine erweiterte Bedeutung, indem er diese kommentiert und um vier Elemente erweitert: die Hervorhebung der Unterschiede zwischen dem/der Rassist_in und dem Opfer, die Wertung zugunsten der/des Rassist_in, die Generalisierung und Verabsolutierung der Unterschiede und schließlich die Begründung, um Aggressionen und Privilegien legitimieren zu können.16

Zur näheren Erläuterung von Rassismus empfiehlt sich die Publikation "Definiton des Rassismus von Albert Memmi".17

ZDF neo Reportage "Der Rassist in uns"

Wo tritt Rassismus auf? Wer sind eigentlich Rassist_innen?

Dass die Frage des Wo und Wer nicht einfach beantwortet werden kann bzw. sich nicht auf die „üblichen Verdächtigen“ aus der rechten Szene beschränkt, wird in der Dokumentation „Der Rassist in uns“ von ZDF neo verdeutlicht.18 Hier geht es vor allem um Alltagsrassismus.

Die Begründerin des Begriffs "Alltagsrassismus", Philomena Essed, fasst ihn wie folgt zusammen:

"Everyday racism is a process in which (1) socialized racist notions are integrated into meanings that make practices immediately definable and manageable, (2) practices with racist implications become in themselves familiar and repetitive, and (3) underlying racial and ethnic relations are actualized and reinforced through these routine or familiar practices in everyday situations."19

Alltagsrassismus tritt auch dann oft auf, wenn Menschen sich selbst gar nicht als rassistisch sehen - er versteckt sich in vielen kleinen Äußerungen und Situationen, in dem, was wir für gut, richtig und "normal" halten und wie wir Menschen wahrnehmen, beurteilen und behandeln.

Weiterführendes Material zu Alltagsrassismus

Für Einsteiger_innen in das Thema ist besonders das Buch von Noah Sow „Deutschland Schwarz Weiss“ zu empfehlen.20 Hier wird nicht nur der Begriff erklärt, sondern es geht auch auf individuelle Einstellungen und Gefühle, die im Alltag entstehen, ein.

Zudem gibt es einen kurzen Clip von 3sat zu dem HashTag „SchauHin“, bei dem Fälle von Alltagsrassismus getwittert werden.21

Der HashTag orientiert sich an der US Kampagne „I Too Am Harvard“22 und „Auch Ich Bin Deutschland“23.

In Bezug auf Alltagsrassismus wird immer wieder auf die Verwendung von rassistischen Wörtern und Bedeutungen verwiesen. Alltagsrassismus hat also auch etwas mit Sprache zu tun; selbige stammt teilweise noch aus der Kolonialzeit und trägt nach wie vor das damals gängige rassistische Weltbild in sich, welches die Kolonisierung und Ausbeutung unzähliger Länder und Menschen rechtfertigen sollte. Daher wurde auch das Lexikon "Wie Rassismus aus Wörtern spricht" von Susan Arndt und Nadja Ofuatey-Alazard herausgegeben, in dem vor allem rassistische Begriffe reflektiert, die Hintergründe erklärt und Alternativen aufgezeigt werden.24

Dass Rassismus und damit auch Alltagsrassismus in der (deutschen) Sprache auch in den Medien und der Literatur wirkt, wird in einem kurzen Ausschnitt der Veranstaltung "Wo beginnt Rassismus? Sprache in Medien und Literatur" der Heinrich Böll Stiftung, vom Projekt Netz gegen Nazis von der Amadeu-Antonio-Stiftung eingestellt, gezeigt.25

Zum Schluss sei noch auf eine kleine Literaturauswahl vom DGB zum Thema Rassismus und Sprache verwiesen.26